Shen Congwen wurde im Jahre 1902 in der Garnisonsstadt Fenghuang im Westen der Provinz Hunan geboren. Er gehört zu der Generation chinesischer Schriftsteller, die in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts die Literatur ihres Landes reformierten. Zunächst schlug Shen wie seine Vorfahren eine Militärlaufbahn ein. Seit 1922 als Werkstudent in Peking, fand der junge Autodidakt, der Ende 1924 zu publizieren begann, bald Anschluß an die damalige literarische Avantgarde. Wie viele andere Autoren dieser Zeit schrieb er Erzählungen, Novellen und Romane in der Umgangssprache, die von den Gelehrten Chinas jahrhundertelang als nicht literaturfähig verachtet worden war, und erzählte aus dem Alltagsleben der kleinen Leute, meist aus seiner Heimat Hunan. Bauern, Händler, Mägde, Matrosen, Soldaten, ja sogar Prostituierte sind die Figuren seiner Geschichten. Die Gefühle, die diese Menschen bewegen, ihr Charakter und ihr Schicksal sind sein eigentliches Thema. Eine wichtige Rolle spielen daher auch religiöse wie weltliche Sitten und Gebräuche. Anders jedoch als die meisten chinesischen Schriftsteller seiner Generation war Shen nicht politisch engagiert. Nie hat er sich um eine gesellschaftskritische oder auch nur sozial wertende Aussage bemüht. Sofern die Zeitereignisse überhaupt in das Geschehen hineinspielen, dienen sie lediglich als Hintergrund, der die Charaktere einzelner Personen besonders deutlich hervortreten läßt. Schon früh wurde er daher vor allem von den Linken kritisiert, die seine Arbeiten als romantisch und pessimistisch verurteilten. Shen zeigte ihrer Meinung nach allzusehr die Traditionsgebundenheit und die Religiosität des einfachen Volkes. Konsequenterweise beschloß Shen nach Gründung der Volksrepublik China im Oktober 1949, keine literarischen Werke mehr zu veröffentlichen, sondern nur noch wissenschaftlich zu arbeiten. Dennoch hatte er unter den verschiedenen Kritikkampagnen seit 1956 zu leiden und wurde während der Kulturrevolution (1966-1976) wie zahllose andere Intellektuelle verfolgt. Nach 1976 wurden seine Arbeiten zwar wieder publiziert, doch sind die kulturpolitischen Kontroversen um sein Werk in China bis heute nicht völlig verstummt. Für den deutschen Leser bieten Shen Congwens Geschichten - wie die kaum eines anderen chinesischen Schriftstellers unserer Zeit - daher die Möglichkeit, das China von früher kennenzulernen. In ihnen begegnet uns der einfache chinesische Mensch, der uns, so empfindet man deutlich, aller geographischen Distanz und kulturellen Verschiedenheit zum Trotz näher steht und verstehbarer ist, als wir gemeinhin glauben.