Wassily Kandinsky (1866-1944) kann zu jener Gruppe von Künstlerpersönlichkeiten gerechnet werden, deren Arbeit von der Suche nach allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten von Kunst und Natur geprägt war. Wurde der Pionier der abstrakten Malerei allerdings immer wieder unter Verweis auf sein Interesse an Theosophie, spiritistischem und religiösem Gedankengut in das Lager der Naturwissenschaftsskeptiker verbannt, so kann unter Heranziehung des von der Kandinskyforschung bislang unberücksichtigten Bestandes an deutschsprachigen Wissenschaftsbüchern aus dem Besitz des Künstlers (Kandinskyarchive im Musée National d'Art Moderne in Paris) aufgezeigt werden, dass Kandinsky das Geistige nicht nur auf das Intuitiv-Künstlerische reduzierte, sondern es verstand, seine malerische und theoretische Suche mit wissenschaftlich orientiertem Forschergeist zu paaren. Vorliegende Studie geht der Frage nach, inwieweit und über welche Kanäle sich der Künstler mit den aktuellen physikalischen Theorien seiner Zeit, mit Relativitäts- und Quantentheorie auseinandergesetzt hatte. Dabei zeigt sich, in welchem Maße sich Kandinsky nicht nur in seiner Privatkorrespondenz sowie theoretischen Schriften immer wieder auf die Naturwissenschaften bezog, sondern dass auch gerade seine bildnerischen Arbeiten den den naturwissenschaftlichen Theorien des 20. Jahrhunderts zugrundeliegenden Wandel von einem statischen zu einem dynamischen Weltbild reflektieren. Im Blickpunkt stehen die Studienjahre Kandinskys an der Moskauer Universität, sein Mitwirken am Aufbau einer Akademie für Wissenschaft und Kunst während der Revolutionsjahre in Russland und die Lehre am Bauhaus bei der Untersuchung der konkreten Kontaktmöglichkeiten des Künstlers zum wissenschaftlichen Milieu seiner Zeit. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung Kandinskys mit Sachliteratur aus dem Bereich der Physik und Mathematik und einer unter diesem Aspekt durchgeführten Neulektüre seiner theoretischen Stellungnahmen zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der Abstraktionsprozess nicht das Auflösen des Gegenstandes als solchem zum Ziel hatte, sondern Ausdruck einer neuen Raumerfahrung war, die als Sichtbarmachung von integriertem Betrachterblickpunkt und gewandelten Wahrnehmungskriterien zum Inhalt der bildnerischen Arbeit wurde. Nur so lässt sich Kandinskys Rückkehr zum Figürlichen im Zeitraum von 1914 bis 1916 und sein Konkretisieren von malerischen, nicht-narrativen Bildelementen in den folgenden Jahren verständlich machen, ohne fälschlich mit zeitlich zur bildimmanenten Entwicklung diskrepanten Einflüssen der russischen Avantgarde bzw. der Bauhauskollegen und -Doktrin argumentieren zu müssen. Ein allgemeiner geschichtlicher Überblick zu den Naturwissenschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie speziell die Erörterung von Terminologie und Inhalt der Relativitäts- und der Quantentheorie liefern die Voraussetzung für eine Analyse des malerischen Bildraums der Kompositionen des Malers in den zwanziger Jahren. Es geht bei der Argumentation keinesfalls darum zu zeigen, Kandinsky habe sich für die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit interessiert, um diese gestalterisch umzusetzen, sondern anhand dieses Fallbeispiels die fließende Grenze bei der Erkenntnis und Sichtbarmachung einer neuen Wahrnehmungsdimension von Raum als dynamische Raum-Zeit, d. h. des Bewusstseins von einem in-der-Welt-sein zu einem in-der-Welt-werden deutlich zu machen.